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1949 in Kursk geboren, 2002
in Moskau gestorben. Er arbeitete vor allem in Eisen und Stein, wobei der
sprachbegabte, philosophisch orientierte Bildhauer biblische Themen und
Motive aus der antiken Mythologie bevorzugte. Seine Skulpturen zeigen das
Spiel von Licht und Schatten und Bewegung, die den Bereich der traditionellen
Plastik überschreitet. Hier ist die Macht der vier Elementarkräfte
- Erde, Feuer, Luft und Wasser - noch spürbar, als gäbe es keine
übermächtige Warenwelt. In Moskau stehen zwei seiner großen
Figuren auf Dauer vor der berühmten Tretjakow-Galerie. Jahrelang kam
Grigoriew für einige Wochen nach Berlin und arbeitet in der Bildhauerwerkstatt
des BBK im Wedding.
ROMANTISCHE GEGENWELTEN
Gedanken aus einem Gespräch zwischen Alexei Grigoriev, Anette Schwarz
und Ralf Hartmann im Constanze Pressehaus.
Die Idee ist schon im Kopf geboren. Und dann muß ich die entsprechenden
Materialteile finden. In jedem Metallteil ist schon eine Spannung drin.
Ich entwickle diese Spannung weiter und mache etwas daraus.
Diese Fundstücke machen Geschichte deutlich. Oft bleiben die ursprünglichen
Funktionszusammenhänge der einzelnen Bestandteile der Arbeiten noch
erkennbar, immer ist der Prozeß der künstlerischen Bearbeitung
und Neudefinition des Materials nachvollziehbar. Entscheidendstes Merkmal
der Arbeiten von Alexei Grigoriev ist der rohe, ungeglättete Zustand
des Materials, der immer mit den tragischen Themen der Figuren in engem
Zusammenhang steht. Seine Thematik ist keine typische des späten
zwanzigsten Jahrhunderts. Sie setzt sich nicht selbstkritisch mit dem
künstlerischen Medium auseinander, stellt keine Fragen an die eigene
künstlerische Arbeit, sondern trifft Aussagen. In vielen seiner Arbeiten
sind diese Aussagen mit klassischen Themen aus der antiken Mythologie
und religiösen Inhalten der abendländischen Tradition verbunden:
"lch beschäftige mich mit diesen Themen nicht nur, weil ich
vieles darüber gelesen habe, sondem weil sie wichtig sind. Diese
Themen sind ewig."
Die Kenntnis und Vertrautheit mit den klassischen Themen der Kunstgeschichte
sind vor dem Hintergrund der Biographie des Künstlers zu verstehen.
Alexei Grigoriev wuchs in einer Familie auf, deren Wurzeln noch in die
Geisteswelt des europäischen 19. Jahrhunderts zurückreichen.
Seine Großmutter war Professorin für Alte Geschichte und begann
ihr Studium in den letzten Jahren des Zarenreiches. Sie lernte also zu
einer Zeit, in der Rußland noch in die Traditionen der europäischen
Geistesgeschichte eingebunden war, bevor sich durch die Revolution auch
die Orientierung der Intellektuellen zu verändern begann. Grigorievs
Mutter ist Dichterin und machte sich einen Namen als Übersetzerin
antiker Literatur. In der Familie war der Künstler also bereits in
seiner Jugend mit der traditionellen Bildung und Kunst in Berührung
gekommen und wuchs in einer intellektuellen und kosmopolitisch orientierten
Umgebung auf, die nachhaltigen Einfluß auf seine Interessen und
Fähigkeiten hatte. Sehr früh war der künstlerische Weg
entschieden: "Es war ganz klar für mich: Ich muß Bildhauer
sein, seit meiner Kindheit, seit dem 7. Lebensjahr."
Mit der Mutter und der Großmutter begann Grigoriev, gemeinsam zu
lesen, insbesondere Texte aus der Geschichte und der antiken Mythologie.
Während des Studiums der Bildenden Kunst und Musik wurde die Beschäftigung
mit den klassischen Themen wichtiger Bestandteil der Arbeit. Die besondere
Situation in der Familie ließ dieses Interesse zu einer Gegenwelt
werden, und schon früh wurde dem Künstler klar, sich in einer
Außenseiterposition zu befinden, die seine persönliche Entwicklung
nachhaltig bestimmte. Ständig war er mit dem äußeren Druck
auf seine, nicht der offiziellen Doktrin entsprechenden Familie konfrontiert,
in der man sich besonders an der westlichen Literatur und Philosophie
orientierte. Bücher bedeuteten den Kontakt nach außen, zu einer
freieren Welt. Aus diesem "Hunger nach Bildung" entstand Grigorievs
fundierte Kenntnis westlicher Literatur, insbesondere der des französischen
Symbolismus und Existentialismus. Das Gefallen an dieser Epoche ist eng
mit seinen eigensten Fragen nach dem Sinn menschlichen Lebens verbunden.
Wie auch gerade bei Proust und Sartre ist für Grigoriev die Entstehung
des Lebens und der Gedanke der Vergänglichkeit von elementarer Wichtigkeit.
Geburt und Krieg werden zu zentralen Themen der künstlerischen Auseinandersetzung:
"Geburt ist ein wichtiges Thema. Wann beginnt etwas, sich zu entwickeln,
wann beginnt Menschsein? Genauso ist Krieg ein wichtiges Thema. Das ganze
Leben ist ein Kampf. Wenn Du geboren wirst, beginnst Du zu kämpfen
- den Überlebenskampf!"
Grigorievs Arbeiten sind immer Spiegel der eigenen Befindlichkeit, des
individuellen Weltzugriffs. Seine Weltanschauung ist eine retrospektive,
sehnsuchtsbeladene. Die Arbeiten greifen in ihrer Aussage nicht in reale
Situationen und Verhältnisse ein, sondern formulieren ein Ideal,
das in seinem Kern ein zutiefst romantisches ist. Seine Themen und die
Art der künstlerischen Gestaltung sind Chiffren für die eigene
Emotionalität, die eigene Lebensphilosophie, die immer wieder um
die Begriffe Schmerz, Kampf und Einsamkeit kreist. "Wenn du etwas
über deine Gefühle sagen willst, mußt Du den menschlichen
Körper expressiv machen. Cocteau sagt: Der Künstler muß
immer einen Schritt vor der Schönheit, muß schneller als sie
sein. "
Allen Arbeiten Grigorievs gemeinsam ist die Zurückgezogenheit auf
die Figur selbst. Die Tragödie des menschlichen Lebens"
wird nicht im Dialog zwischen Skulptur und Umwelt greifbar, sondern ist
konstituierender Bestandteil der inneren Logik der Form selbst - viele
Skulpturen des Künstlers wirken isoliert, auf sich selbst, auf die
innere Dramatik der Figur zurückgezogen. Der menschliche Körper
wird zum Schauplatz einer aggressiven Begegnung von Individuum und Welt,
von Lebensrealität und künstlerischer Fiktion. Wunden und Schmerz
beziehen ihre Ausdruckskraft nicht aus dem dynamischen Prozeß zwischen
Betrachter und Kunstwerk, sondern stehen am Ende des Vorgangs der künstlerischen
Entwicklung einer Idee vom Wesen menschlichen Lebens.
"Tragödie ist überall, in jedem Gegenstand. Jeder Gegenstand
ist nicht ewig, sondern kann sterben wie du und ich." Das Vanitas
- Motiv reiht sich ein in die Phalanx der persönlichen Erfahrungen
Grigorievs, die sein pessimistisches Bild von der realen und seine Hoffnung
auf eine bessere, transzendentalere Welt bestimmen. Fremdheit, Einsamkeit
und Melancholie bestimmten das Denken des Künstlers bereits zu Zeiten
der Sowjetunion und haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Seit seiner Kindheit empfindet er sich als Fremder, der nicht an der realen
Welt teilhat, sondern in innerer Opposition zu ihr steht.
"lch habe den Kommunismus immer gehasst. Obwohl mein Vater Kommunist
war, habe ich innerhalb der Familie immer Kontakt zu Dissidenten und Andersdenkenden
gehabt. Dieser kleine Kreis hat mir die Fremdheit verdeutlicht, weil wir
immer auf einem schmalen gesellschaftlichen Weg gingen."
Das Gefühl der Fremdheit ist bei Grigoriev eng mit dem Begriff der
Heimat verbunden: "lm Moment fühle ich, daß ich keine
Heimat habe. Daß ich in Berlin bin, war ein Zufall. Ich fühle,
daß mir die Welt fremd ist. Heimat ist für mich Kultur, sind
Bücher. Meine Straße, mein Haus sind genug für mich. Ich
fühle mich einsam, überall in der Welt. Deshalb will ich auch
gar nicht reisen, ich lerne nichts Neues, nichts, was ich nicht schon
kenne. "
Diese Art des Denkens hat Grigoriev Zeit seines Lebens zu einem Fremden
werden lassen, der nicht eigentlich an dem realen Leben teilnimmt, sondern
sich in eine Gegenwelt aus Geschichte, Literatur und Kunst flüchtet,
um dort auf seine eigene Art in der Kontemplation Erkenntnisse über
das Wesenliche des menschlichen Lebens zu gewinnen.
"Homer hat gesagt: Du wirst geboren, um zu verstehen. Dann kannst
Du sterben. - Ich will nicht durch die Welt gehen ohne Sinn." Die
Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens steht für ihn in engem Zusammenhang
mit Religiosität. In vielen seiner Arbeiten wird deutlich, daß
Grigoriev ein tief religiös empfindender Mensch ist. Dies manifestiert
sich nicht nur in christlichen, sondern zu einem größeren Teil
in alltestamentarischen Themen. In ihnen verbinden sich für ihn antike
Mythologie und moderne Philosophie. Sein pantheistisches Denken bestimmt
auch die schwierige Frage nach seinem persönlichen Gottesglauben,
der kein klarer, sondern ein problematischer ist: Ich versuche religiös
zu sein, aber es ist zu einfach zu sagen: Ich bin gläubig. Ich versuche
schon mein ganzes Leben lang, gläubig zu sein, lese die Bibel, das
Alte Testament, gehe in die Kirche. Aber es ist schwer zu schaffen, gläubig
zu sein. Das ist noch eine andere Position. Ich kann sagen, daß
ich an Gott glaube, aber was will er mit mir machen? Was will er mit mir
zu tun haben? Ich merke nicht, daß er etwas mit mir machen will.
Aber Gott und Religion sind trotzdem sehr wichtig für mich. Besonders
auch die Apokalypse und Hiob, das beste literarische Werk überhaupt.
Ich mache meine Kunst ein bißchen für Gott. Es ist meine Antwort
auf die Frage, wofür er mich gemacht hat. "
Trotz aller Konzentration auf die klassischen Themen der abendländischen
Kunst- und Kulturgeschichte formulieren Grigorievs Arbeiten aber nicht
nur eine positive Utopie, einen Gegenentwurf zur Realität, sondern
immer wieder wird die spezifisch russische Art des Zugriffs auf ein Thema
deutlich. Traurigkeit und Krankheit sind für den Bildhauer wichtige
Faktoren in der Beschäftigung mit der russischen Tradition insbesondere
des 19. Jahrhunderts: Krankheit ist ein sehr wichtiges Thema für
mich. In der russischen Literatur war Gopol der erste große Kranke,
Wahnsinnige. Nur wenn man krank ist, kann man ver-stehen. Wenn man gesund
ist, kann man wichtige Sachen nicht verstehen. Gopol hat einmal gesagt,
man müsse seine Krankheit leben, so wie auch Dostojewski. Puschkin
war gesund, hatte keine Probleme, auch nicht mit Frauen. Aber er war auch
kein hundertprozentiger Russe. Rußland ist immer ein bißchen
krank! Und traurig! Jedes Fest hat auch immer ein bißchen Traurigkeit.
Wir Russen fragen uns immer, wofür wir leben. Das ist auch unser
Nationalproblem!"
Auch Alexei Grigoriev steht zwischen diesen gegensätzlichen Temperamenten.
In die Freude mischt sich immer ein Hauch Traurigkeit, in die Hoffnung
Verzweiflung. Die Zerrissenheit, die sich in seinen Äußerungen
zu vielen Themen zeigt, wird auch in den Skulpturen faBbar. Sie sind nie
eindeutig und genau determiniert, sondern hinterfragen den Inhalt, untersuchen
die Position des Menschen in seiner Umwelt. Glück, Liebe und Erotik
sind nie ungebrochen, sondern haben immer auch etwas Bedrohliches. Sehnsucht
mischt sich immer wieder mit Kampf.
Trotz aller Zweifel am Gegenstand bleiben Grigorievs Arbeiten immer hermetisch,
auf sich selbst bezogen und wenden sich nie appellativ nach außen,
um eine Anklage zu formulieren. Die Zurückbesinnung auf klassische
Themen ist Indiz für eine passive, reflektierende Haltung gegenüber
dem Außen. Sie bietet Schutz vor den Angriffen des täglichen
Lebens, wirkt unpolitisch. Letztlich bleibt die Kunst ein Bild oder Image
einer Gegenwelt und ist damit symptomatisch für die spezifische Situation
der oppositionellen Intelligenz in der ehemaligen Sowjetunion, die entweder
aktive Regimekritik betrieb oder sich in die sogenannte "innere Emigration"
begab.
Seine Position innerhalb dieses Zwiespalts macht Alexei Grigoriev zu einem
späten Romantiker: "lch bin ruhelos."
Dezember 1995
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